Vom Sinn des Leben

Von Ursula Armstrong

„Oje, er ist schon wieder soweit.“
Bekümmert betrachtete Rosi ihr Herrchen Leo. Es war schon später Vormittag, aber er schlief immer noch. Schlimm war, daß er voll angekleidet auf dem Bett lag. Sogar einen Schuh hatte er noch an. Noch schlimmer fand Rosi aber den Gestank, der von ihm ausging: Alkohol. Sie verzog die feine Hundenase und schüttelte traurig den Kopf. Das passierte Leo in der letzten Zeit immer häufiger, daß er in dem Zustand nach Hause kam. Dann ging es ihm am nächsten Tag immer sehr schlecht. Deshalb hätte Rosi ihn am liebsten schlafen lassen. Aber sie hatte Hunger, und vor allem war ihre Blase zum Bersten voll – sie mußte dringend raus. Immerhin war es schon spät, und sie hatte lange Geduld mit ihm gehabt. Aber jetzt mußte sie etwas unternehmen.
Vorsichtig drückte sie ihre nasse Nase an Leos Gesicht.
Doch der stöhnte nur und drehte sein Gesicht weg.
Rosi mußte zu stärkeren Mitteln greifen: Sie leckte Leos Nacken.
„Was isss?“ Leo versuchte, sie wegzuschieben. Aber Rosi blieb hartnäckig.
Er drehte sich um und öffnete ein Auge. „Was isss?“, fragte er wieder mit schwerer Zunge. Doch dann erkannte er sie. „Rosi! Du Arme, du hast sicher Hunger.“
Schwerfällig erhob er sich und schlurfte auf seinem einen Schuh in die Küche. Er trank ein großes Glas Kranenwasser. Dann machte er eine Dose Hundefutter auf.
„Entschuldige, daß ich dich vernachlässigt habe, Rosi. Aber mir geht es einfach nicht gut, verstehst du?“
Rosi schaute ihn mit schiefgelegtem Kopf an, wedelte mit ihrem Schwanz und verstand gar nichts. Aber sie fand es nett, daß er sich bei ihr entschuldigte. Überhaupt war er eigentlich ein ganz lieber Mensch, nur irgendwie unglücklich.
Rosi war erst seit ein paar Monaten bei Leo. Eigentlich hatte sie seiner Mutter gehört. Doch nach deren Tod hatte Leo sie zu sich genommen.

 

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Schon das fand Rosi sehr nett von ihm. Denn sie wusste sehr gut, daß sie kein stattlicher Hund war. Nicht einmal besonders hübsch war sie mit ihren hervorquellenden Augen, ihrem einen hängenden und einem stehenden (naja, fast stehenden) Ohr, ihrem kurzen, langweilig sandfarbenen Fell und ihren krummen Beinchen (einer ihrer Vorfahren mußte ein Dackel gewesen sein, aber genau war das nicht mehr auszumachen). Deshalb war sie Leo wirklich dankbar, daß er sich um sie kümmerte.
Während sie frühstückte, saß Leo am Küchentisch, den Kopf in den Hände gestützt. „Meine Güte, habe ich Kopfschmerzen! Wenn ich doch nur nicht so viel saufen würde! Aber es hilft, verstehst du, Rosi. Es hilft gegen die Leere und gegen das ständige Grübeln. Ach, Rosi, diese Leere ist das Schlimmste. Mein Leben hat einfach keinen Sinn. Ich habe den Sinn des Lebens verloren. Verstehst du?“
Rosi wedelte ihn an, aber wieder verstand sie nicht, was er meinte. Ach, wenn ich ihm nur helfen könnte, dachte sie.
Dann hielt sie inne. „Verloren“, hatte er gesagt. Er hat was verloren. Das könnte ich ihm doch bringen, dachte Rosi. Sie musterte Leo, wie er verzweifelt am Tisch saß in seinen zerknitterten Kleidern von gestern und mit nur einen Schuh...
Das ist es! Er hat den anderen Schuh verloren! Rosi lief ins Schlafzimmer, um sicher zu sein, daß der zweite Schuh nicht da war. Nein, wirklich, Leo hatte einen Schuh verloren. Kein Problem, dachte Rosi, den werde ich ihm finden.
Sie kratzte an der Haustür, damit Leo sie raus ließ. Das war auch höchste Zeit, denn ihre Blase war zum Zerplatzen voll.
Nachdem das erledigt war, versuchte sie, Leos Spur aufzunehmen. Das war überhaupt nicht schwer. Rosis Nase war sehr gut, und Leos Eigengeruch war so stark mit Alkohol vermischt, daß einem fast schlecht wurde. Diese Spur konnte man gar nicht verpassen. Rosi wunderte sich, daß die Menschen diesen Gestank nicht rochen. Aber die Armen hatten ja keine feinen Sinne.
Rosi folgte also Leos Spur bis zu einem Haus. Einer Kneipe, so weit kannte sie sich schon aus. Hier war der Alkoholgestank ganz unerträglich. Daß die Menschen das aushalten könnten, dachte Rosi und wunderte sich wieder. Sie wartete, bis die Tür aufging, weil jemand herauskam. Da schlüpfte sie schnell hinein und suchte nach Leos Schuh. Denn hatte sie auch bald unter einem Tisch ganz hinten in der Ecke gefunden.
Mit dem Schuh im Maul wartete sie unter einem Tisch, bis die Tür aufgemacht wurde. Dann rannte sie hinaus und nachhause.
Leo hatte die Küchentür für sie aufgelassen und sich wieder aufs Bett gelegt.
Rosi stupste ihn an und hielt ihm stolz den Schuh hin. Jetzt müßte er doch wieder glücklich sein, dachte sie.
„Was isss?“, machte Leo wieder. „Du willst, daß ich mit dir Gassi gehe? Nein, laß mich, Rosi. Geh alleine.“ Dann drehte er sich wieder um.
Rosi ließ den Schuh enttäuscht zu Boden fallen. Das war alles? Er freute sich nicht, daß sie ihm den verlorenen Schuh zurückgebracht hat? Offenbar war ihm nicht einmal klar, daß er seinen Schuh verloren hatte.
Traurig ging sie in den Garten, legte sich in die Sonne und dachte nach.
Der arme Junge, dachte sie. Das hatte seine Mutter auch immer gesagt. Der arme Junge, daß er auch immer so viel grübelt, hatte sie bekümmert gesagt. Nun ist sie tot, und ich muß mich um ihn kümmern, dachte Rosi. Wie kann ich ihm nur helfen? Er hat was verloren – gut, so weit habe ich verstanden. Der Schuh war es nicht, das ist jetzt auch klar. Also was? Vom Sinn des Lebens hat er geredet. Aber was soll das nur sein? Das verstehe ich überhaupt nicht.
Rosi kratzte sich hinter einem Ohr, das half ihr immer beim Denken. Ich werde jemanden fragen müssen, dachte sie. Allein komme ich nicht weiter. Und sie wusste auch schon wen ....